Der Begriff des Shitstorms, den der ehemalige australische Premierminister Kevin Rudd 2009 durch ein Channel 7 Interview um die Welt schickte, hat sich längst auch im alltäglichen deutschen Sprachgebrauch eingebürgert. Die Gründe und Abläufe dahinter sind für viele Menschen jedoch leider noch immer Neuland.
Dabei sind Shitstorms in der heutigen Zeit nichts Unübliches mehr. Vor allem durch die Sozialen Medien werden Aussagen und Meinungen blitzschnell um die Welt getragen und selbst bei den bestgemeinten Botschaften wird es immer jemanden geben, der sich beschwert. Dies musste unlängst auch die Balinger FU-Bundesvorsitzende und CDU-Integrationsbeauftragte Annette Widmann-Mauz erfahren, die in ihrer Weihnachtskarte schrieb: „Egal woran Sie glauben… eine besinnliche Zeit und einen guten Start ins neue Jahr.“ Einige Internetuser sahen darin „das Ende des Abendlandes“ (Quelle: Kommentar auf BILD Facebook-Seite), da Widmann-Mauz zuvor gegenüber Muslimen zwar den Ramadan erwähnte, nun jedoch gegenüber Christen nicht einmal mehr das Wort „Weihnachten“ hervorbrächte.
Angst führt zu Beliebigkeit
Shitstorms entstehen häufig aus bereits vernetzten Gruppen heraus, in denen ein (subjektiv empfundenes) Fehlverhalten geteilt und verurteilt wird. Daraufhin versucht dann jeder weitere Kommentator sich noch empörter zu zeigen als der vorherige. Nicht selten wird dann von Ursache und Inhalt völlig Abstand genommen, der Urheber der Botschaft ausschließlich persönlich angegriffen und nur noch das eigene Mütchen gekühlt. Dieses auch als „trollen“ bezeichnete Phänomen ist für die Meinungsfreiheit in unserer Gesellschaft ein akutes Problem. Denn oftmals wird der Absender einer ungeliebten Nachricht sogar noch bei Freunden oder gar dem Arbeitgeber angeschwärzt.
Bei Politikern tut sich ein weiteres Problemfeld auf. Sie sind oftmals schon im Vorfeld gelähmt vor Angst, es könne sich auf eine klare Positionierung negative Resonanz zeigen. Besonders bei Themen, welche der politische Wettbewerb mit dem Stempel „gut für das Allgemeinwohl“ versehen hat (also v.a. Klima- und Umweltpolitik, soziales wie Familie, Kinder oder Gender) sind Politiker der Mitte und der konservativen Seite sehr zurückhaltend. Dies führt jedoch dazu, dass sich in diesem Vakuum der Wettbewerb stark macht, sich sicher fühlt und jeglichen politischen Vorstoß durch Skandalisierung erschwert.
Auch die Medien spielen hier eine wichtige, doch leider oftmals sehr negative Rolle. Anstatt als Aufklärer zu fungieren, schüren sie Shitstorms noch weiter an, sei es aus politisch-ideologischem Interesse oder nur zur Steigerung der Auflage. Wollen sie jedoch als seriös wahrgenommen werden, dann sollten sie sich alsbald ihrer besonderen Verantwortung bewusst werden. Dies gelänge ganz einfach, indem sie Themen versachlichen, Inhalte herausstellen, Urheber nach ihren Intentionen befragen oder sogar zwischen Interessengruppen vermitteln würden. Ein seriöser Umgang mit politischer Kommunikation wäre für viele Medien eine Chance, neue Autorität und Reputation zu erlangen.
Shitstorm aus dem Reagenzglas
Ich habe es im Selbstversuch ausprobiert und zum Test im Dezember 2018 in Facebook die Aussagen der 15jährigen Schwedin Greta Thunberg analysiert, die sie am Rande des UN-Klimagipfels in Kattowitz tätigte. Diese Kritik an ihrer neuen „Jeanne D’Arc“ (Zitat achgut.com) erzeugte im Öko-Lager eine sofortige und gewaltige Gegenreaktion, die zwar keine Inhalte, jedoch umso heftigere persönliche Anfeindungen hervorbrachten. Diesen Versuch habe ich an anderen Stellen wiederholt, die Ergebnisse waren ähnlich.
Selbiges gilt auch für Twitter. Es ist auch hier völlig unproblematisch, Interessengruppen zu aktivieren, wenn man deren Reizworte kennt. Besonders boulevardeske Journalisten fallen dann auf diese Reaktionen herein und übertragen die Shitstorm-Aussagen in die analoge Welt. Oftmals tun sie dies mit der Absicht den Urheber vorzuführen oder, wie oben erwähnt, zur Skandalisierung oder aus Absatzgründen. In Wirklichkeit jedoch verbreiten sie die Nachricht nur und tragen zur Bekanntmachung und Wahrnehmung des Urhebers bei. In meinem Fall war dies durch eine hohe Anzahl von Likes, Kommentaren und Retweets messbar.
Nutze deine Feinde
Diese Art von Konfrontation mit Meinung und Fakten ist somit nichts Schlechtes. Im Gegenteil. Sie bildet das eigene Profil und sie schärfte die rhetorischen Qualitäten. So suchte sich zum Beispiel der ehemalige britische Premierminister Tony Blair vornehmlich kritische Gruppen und Medienvertreter, die aus ideologischen Motiven gegen ihn arbeiteten. Das Ergebnis dieser „Masochismus-Strategie“ (Quelle: Margaret Scammel, American Academy of Political and Social Science, 2007) war ein erhöhtes Medien-Interesse und ein geschärftes Leader-Profil auch bei seiner eigenen Stammwählerschaft. Man muss natürlich nicht gleich in Trump-Manier die gegnerischen Wähler beleidigen – ihnen jedoch stets Kante und Argumente entgegenzustellen, hat sich jedoch in wissenschaftlichen Untersuchungen als Vorteil erwiesen.
Es war noch nie so leicht wie heute, die eigene Meinung so weit und so schnell mit anderen Menschen zu teilen. Natürlich können gut vernetzte Gruppen oder Internet-Trolle stets Gegenkampagnen starten, selbst bei kleinen Ursachen, doch dieser Bestandteil des Systems sollte Basis eines Lernprozesses sein für alle Beteiligten, also für User, Medien und Politik. Gerade erfahrene Internetuser sollten lernen, nicht auf Trolle hereinzufallen, sondern ihnen mit Authentizität, klaren Argumenten und besonders Ironie zu begegnen. Nichts entwaffnet mehr.
Mut zur Kante und zur freien Meinung
Notwendig erscheint jedoch vielmehr, dass Politik und führende Medien definieren, wie die politische Diskussion geführt werden soll. Darf Meinung frei sein oder stellen wir sie unter das Diktat der Political Correctness, so dass sich von Meinung primär niemand verletzt fühlen darf? Dies zu klären, wäre ein wichtiger gesellschaftlicher Schritt, doch wie so oft, sind weder von Seiten der Politik noch der Medien entsprechende Intentionen spürbar.
In der Realität erleben wir, dass sich nur wenige Politiker trauen, klare Kante zu formulieren. Sie wagen lieber weichgespülte Postings und zeigen Impressionen von der letzten Auslandsreise oder wem man wieder lächelnd die Hand geschüttelt hat. Das Provozieren oder Einfordern von Reaktionen jedoch, was nicht nur aus Marketingsicht elementar wichtig wäre für jede Policy einer Partei, wird aus Angst vor negativen Reaktionen von vielen Politikern schlichtweg unterlassen.
Diese möchten nämlich virtuell lieber „Everybody’s Darling“ sein und messen ihre Beliebtheit anhand von Likes. Dabei erscheinen sie jedoch nur beliebig und sind somit eher, frei nach Franz Josef Strauß, „Everybody’s Depp“. Doch gerade in Zeiten erstarkender populistischer Parteien links und rechts der gesellschaftlichen Mitte wären klare Formulierungen und direkter Dialog umso wichtiger. Haben wir doch endlich den Mut offen, inhaltlich und deutlich zu kommunizieren und unterstützen wir diejenigen gegen Internettrolle und Boulevardjournalisten, die es sich trauen. Am Ende wird es sich nämlich für alle lohnen.
Veröffentlicht im Dezember-Heft 2018 des WiFo der MIT Baden-Württemberg