Folgen der Änderung des Berechnungsverfahrens bei Kommunalwahlen
Jahrzehntelang wandte man bei Kommunalwahlen in Baden-Württemberg eine auf den belgischen Juristen Victor d‘Hondt zurückgehende Berechnungsmethode an, um aus Wählerstimmen die entsprechenden Sitzverteilungen und Abgeordnetenmandate zu errechnen. In den letzten Jahren wurden jedoch immer mehr Stimmen laut, die auf eine Benachteiligung kleinerer Parteien durch dieses Berechnungsmodell hinwiesen. Eine Alternative dazu bieten die vom französischen Mathematiker André Sainte-Laguë und dem deutschen Physiker Hans Schepers unabhängig voneinander entwickelten Berechnungsarten, die aufgrund anderer Rundungsverfahren kleinere Parteien weniger benachteiligen sollen.
Das Berechnungsmodell Sainte-Laguë/Schepers wird in Baden-Württemberg seit der Landtagswahl 2011 angewandt. Es ist aber bereits seit 1980 bei der Sitzverteilung in den Ausschüssen und Gremien des Deutschen Bundestages im Einsatz und findet seit der Wahl zum 17. Deutschen Bundestag 2009 auch für die Sitzverteilung bei Bundestagswahlen Anwendung.
Unterschiedliche Berechnungsweisen
Bei d’Hondt ermittelt man auf verhältnismäßig einfache Weise die proportionale Sitzverteilung nach Höchstzahlen. Die auf jede Partei entfallenden Stimmen werden nacheinander durch 1, 2, 3 usw. geteilt. Die auf diese Art gewonnenen Werte werden unter allen Parteien verglichen und die zur Verfügung stehenden Sitze in absteigender Reihenfolge vergeben.
Sainte-Laguë/Schepers ist ein Divisorverfahren mit Standardrundung. Hierbei wird in einem ersten Schritt die Gesamtanzahl aller zu berücksichtigenden Stimmen durch die Gesamtanzahl der zur Verfügung stehenden Sitze geteilt, um einen „vorläufigen Divisor“ zu erhalten. Danach wird die Stimmenanzahl jeder Partei durch diesen vorläufigen Divisor geteilt. Die sich ergebenden Quotienten werden standardmäßig zu Sitzzahlen gerundet, d. h. bei einem Rest von mehr oder weniger als 0,5 wird auf- oder abgerundet (bei einem Rest von genau 0,5 entscheidet das Los). Der Divisor muss dabei so bestimmt werden, dass die Sitzzahlen in der Summe mit der Gesamtzahl der zu vergebenden Mandate übereinstimmen. Anderenfalls wird der Divisor so lange schrittweise erhöht (iteratives Verfahren), bis die Summe der errechneten Sitze mit der der zur Verfügung stehenden Sitze identisch ist.
Welches Verfahren ist gerechter?
Das Divisorverfahren gilt deshalb als gerechter, da es bei Anpassung des Divisors die Werte hinter dem Komma absenkt, was in der Praxis dazu führt, dass hauptsächlich Parteien, die vorher durch Aufrundung einen Sitz mehr erhielten, diesen nun wieder abgeben müssen. Somit wird die maximale Sitzzahl eingehalten und die Mandate können entsprechend vergeben werden.
Doch ist das nun wirklich „fairer“ als das alte Verfahren? Bildet hier Sainte-Laguë/Schepers wirklich den Wählerwillen ab, oder führt das neue Berechnungsverfahren nicht zu einer erheblichen Erschwerung der Koalitionsbildung, indem die Gemeinderäte von kleinen Splitterparteien überlaufen werden?
Kleine Parteien als Gewinner der neuen Methode
Blicken wir einmal auf das Kommunalwahlergebnis der Landeshauptstadt Stuttgart: Die CDU wurde mit 28,3 % wieder stärkste Partei im Gemeinderat, gefolgt von den Grünen (24,0 %) und der SPD (14,3 %). Und interessanterweise haben gerade die Grünen, die die Umstellung auf Sainte-Laguë/Schepers besonders vorangetrieben haben, in Stuttgart relativ gesehen das größte Nachsehen gehabt.
So hat das neue Verfahren dazu geführt, dass die Grünen zwei Sitze weniger erhalten, als es mit d’Hondt der Fall gewesen wäre. Aber in diesem Vergleich erkennt man auch, dass durch die neue Berechnungsformel ebenfalls der CDU ein Sitz entgeht. Gewinner der neuen Berechnungsmethode waren kleine Parteien und Vereinigungen wie die FDP, die Linke und besonders die Studentische Liste, die mit d‘Hondt den Sprung in das Stadtparlament nicht geschafft hätte.
Es steht fest: Wenn man die Wahlen weiterhin auf Basis der Berechnungsmethode nach d’Hondt durchgeführt hätte, würden nicht nur die Sitzverteilung in den Gemeinderäten, sondern ganze Mehrheitsverhältnisse anders liegen. Dabei wurde auch deutlich, dass großen Parteien in bestimmten Konstellationen sogar noch weniger Sitze zugerechnet werden, als ihnen nach einer einfachen Abrundung zustehen würde. Man spricht hier am Beispiel der Stadt Stuttgart auch von einer „Unterrepräsentation in Form der Über-Abrundung“. Somit mag das neue Verfahren mathematisch zwar nachvollziehbarer sein, aber es ist auch noch nicht der Weisheit letzter Schluss.
Die Umstellung der Berechnungsmethode sollte jedoch nicht nur wissenschaftlich, sondern auch aus einer politischen Sichtweise erfolgen. Und politisch muss man konstatieren, dass die Umstellung dazu geführt hat, dass kleine Parteien und Splittergruppen nun einen besseren Zugang zu Parlamenten erfahren, als es früher der Fall war.
Und nicht nur kleine linke Gruppierungen profitieren von der Umstellung: In Mannheim zum Beispiel gelang durch das neue Wahlverfahren auch einem NPD-Kandidaten der Sprung in den Gemeinderat. Dies zeigt, dass dieser Schritt hin zu einem weiter gefächerten Pluralismus die Koalitionsfindung und die Meinungsbildung in den Parlamenten nicht vereinfachen wird, sondern in zunehmender Art und Weise zu Kompromisslösungen mit Gruppierungen vom Rand des politischen Spektrums führen muss.
Gefahr der Zersplitterung und Lähmung
Es darf somit mit Recht angezweifelt werden, ob ein mathematisch noch immer nicht optimales Berechnungsverfahren und eine höhere Gewichtung von Minderheitsmeinungen eine für die Gesellschaft notwendige Politik fördern oder ob sie sie durch erschwerte Entscheidungsfindungsprozesse nicht eher lähmen.
Sicher, die Umstellung sollte aus der Sicht der kleineren Parteien hauptsächlich dazu dienen, etablierte Kräfte einzufangen. Aber wenn die Absicht, Fairness und Transparenz zu erhöhen, im Endeffekt zu Zersplitterung und damit zu Lähmung und Beliebigkeit führt, dann müssen wir uns langfristig darüber unterhalten, welche Rahmenbedingungen wir der politischen Willensbildung überhaupt noch einräumen wollen.
Bis dahin rate ich meiner CDU zu einem ganz pragmatischen Ansatz: Natürlich stellt die Berechnungsmethode nach Sainte-Laguë/Schepers im Vergleich zu d’Hondt für uns einen Nachteil dar. Doch so sehr man auch an der Rechenmethode herumkritisieren mag: Sie ist nun Fakt und kurzfristig nicht zu ändern. Daher liegt es jetzt an uns – an CDU/CSU und auch an der MIT –, die durch die Rechenmethode entfallenen Sitze durch eine verlässliche, kompetente und transparente Arbeit bis zur nächsten Wahl über noch bessere Wahlergebnisse wieder auszugleichen. Und hierbei muss und darf jeder mit anpacken!
(Veröffentlicht im Monatsmagazin „Wirtschaftsforum“ der mit Baden-Württemberg, Ausgabe Juli/August 2014)